Zwei Kapitel aus den Erinnerungen

 

Zwei Vorbilder:  Schlusnus und Melchior

Es hat keinerlei Bedeutung, daß ich in Germersheim am Rhein geboren bin, denn mein Vater, der Oberfeuerwerker war, sozusagen Chemiker des Heeres, wurde bald darauf nach Ingolstadt versetzt. Hier habe ich nach ein paar Jahren die ersten Schnaderhüpferl zu Vaters Laute in seinem Kameradenkreise vorgetragen. Er stellt mich dreijährigen Dreikäsehoch im Kasino auf den Tisch, und ich sang:

»Mir ist mei Alte g'storben,
Drum ist mir's Herz so schwer, Die find' i gar net mehr,
Es wor als so a gute Seel!
Muß allweil woana, muß allweil woana! Wie mi das kränkt,
Wenn i an mei Alte denk! Hajo.«

Vaters Kameraden sprachen mir ihr Beileid aus und gaben mir ein Zehnerl. Auf diese Weise habe ich frühzeitig gelernt, daß man für Gesang, wenn er aus dem Leben gegriffen ist, auch ein Honorar kriegen muß.
Den wesentlichen Teil meiner Jugend hab ich auf einer Festung verbracht: auf der Festung Marienburg in Würzburg, wohin mein Vater versetzt worden war. Wer den Roman >Die Räuberbande< von Leonhard Frank kennt, dem brauche ich über meine schöne Jugend nicht lange etwas zu erzählen.
Die Frau des Oberstleutnants, der unser Festungskommandant war, liebte das Lied: »Ich bin vom Berg der Hirtenknab«, und wenn ich es sang, schenkte sie mir Schokolade. Ich sang das Lied sehr oft.
Meine musikalischen Einkünfte waren jedoch wie abgeschnitten, als mein Vater nach Nürnberg versetzt wurde. Immerhin wurde ich damit auch den Spitznamen los, den mir meine Schulkameraden auf der Festung gegeben hatten: >Göger<; das ist ein junger Gockel, der kräht!
In Nürnberg absolvierte ich das Realgymnasium, sang im Schulchor und erschreckte meinen Gitarre spielenden Vater, der doch an allem schuld war, mit der Mitteilung, ich würde Sänger werden. »Sänger saufen!« brummte er. Aber meine Mutter ging tapfer mit mir zum Städtischen Konservatorium und gab mich bei dem Direktor, Herrn Rohrig, ab. Mein Lehrer wurde für zwei Jahre Gustav Landauer, ein Baß-Buffo am Nürnberger Theater - sehr populär in der Stadt! Er fand meine Stimme zu hell für einen Bariton und verlangte, ich soll dunkel singen. Das hörte sich so an: »Hööört Groofen, ödle Freuer von Brobont.«
Beim Abschluß des Konservatorium-Besuches wurde ich gleich von meinem Lehrer an das Nürnberger Theater gebracht. Dort wurde gerade der Don Carlos neu einstudiert - die Oper von Verdi. Ich wurde als brabantischer Aushilfsritter gebraucht und sang so dunkel und laut, wie ich es im Konservatorium als Lohengrin-Heerrufer in meinem Appell an die brabantischen Edelleute gelernt hatte. »Schön, sehr schön«, sagte der Intendant. »Danken Sie Ihrem Lehrer, daß er Sie so weit gebracht hat, und kommen Sie in mein Büro!«
Im Büro erhielt ich den Vertrag, den mein Vater unterzeichnen mußte, weil ich noch nicht volljährig war. Er las den Text ganz erstaunt: Herr Schmitt wird engagiert als Sänger und Schauspieler für Oper und Operette.« Dann sprach das Schriftstück von einer zweijährigen Vertragszeit, von Anfang September 1921 bis Ausgang August 1923. Im ersten Jahre sollte eine >Entschädigung< von monatlich250 Mark gezahlt werden, im zweiten Jahre eine >Gage< von 600 Mark. Unterschrift: »Städtische Vereinigte Bühnen von Nürnberg und Fürth und Filialen.«
Mein Vater murmelte: »Viel Geld!« Ich muß jedoch hinzufügen, daß meine Einkünfte sehr rasch stiegen. Es war enorm. Schließlich bezog ich eine Gage von monatlich fünfzehn Millionen Mark. Großzügig, wie ich war, gab ich diese Millionen für eine einzige Schallplatte von Schlusnus aus: Inflation!
Meine Rollen waren klein, aber groß war meine Chance, als der Baßbariton Hans Reinmar in Nürnberg engagiert wurde - eines meiner verehrten Vorbilder. Denn gutmütig, wie er war, ließ er sich überreden, mir Unterricht zu erteilen. Und dank dieser seiner Güte kam ich so weit, daß ich anläßlich meiner Großjährigkeit den edlen, weisen, abgeklärten Wolfram im Tannhäuser recht wohlklingend, gefühlvoll und gar nicht mit dunkler Tönung, sondern ganz natürlich sang: in einer Sonntagnachmittag-Vorstellung in Fürth.
Trotz dieser Leistung erlosch der Vertrag, wurde nicht erneuert, und ich hatte Gelegenheit, wahr zu machen, was man mir empfohlen hatte: nach München zu gehen und bei Professor Richard Trunk zu studieren. Es traf sich nämlich, daß einer meiner Vettern in München Direktor einer Beamten-Waren-Versorgungsanstalt war. Er engagierte mich als Sekretär. Hätte er es nicht getan, dann hätte ich mich in München nie halten können. Und das war nicht allein wegen meiner Studien wichtig, sondern wegen eines Mädchens, das ich heiratete, bevor ich nach einem Jahr in mein zweites Engagement ging: nach Oberhausen.
Mein erstes Auftreten fand in La Bohème statt. Es war eine ausgezeichnete Vorstellung. Aber wie erstaunt war ich, als ich aus nächster Nähe miterlebte, daß die Oper noch viel dramatischer endete, als es im Libretto vorgesehen war: Rudolf warf sich über das Bett seiner sterbenden Geliebten: »Mimi, Mimi.« Da krachte das Gestell in sich zusammen. Übrigens waren die Leute so gerührt, daß sie von diesem Effekt keine Notiz nahmen.
Ich verdiente in Oberhausen sehr wenig Geld. Als Richard Trunk mir einmal auf einer Postkarte mitteilte, daß er in einem Konzert von Lauritz Melchior in Dortmund der Klavierbegleiter sein würde und meine Frau und mich zu sehen wünsche, zählten wir den Inhalt unserer Börse: neun Mark und fünfzig Pfennige. Die Fahrt kostete vier Mark fünfzig in der vierten Klasse des Personenzugs. Wir fanden an der Kasse des Konzertsaales zwei Karten für Plätze in der ersten Reihe. Wir schwammen in Seligkeit. Und Melchior war großartig in Form. Er sang als Zugabe die Rudolf-Arie aus Bohème mit so starkem, strahlendem C, daß man fürchten mußte, die ganze große Halle werde auseinanderfallen. Und erst nach dem Konzert. Von welch bestrickender Liebenswürdigkeit war doch dieser >Welt-Tenor<!
»Wir sitzen doch noch ein Weilchen zusammen, ja?«, sagte er zu uns, ehe er im Wagen davonfuhr. Wir gingen zu Fuß. Im schönsten Zimmer seines Hotels war ein prachtvolles Mahl hergerichtet. Meine Frau und ich schauten uns an. Vier Mark fünfzig war unser ganzer Besitz. Wir >hatten keinen Appetit< und sahen zu, wie Lauritz Melchior mit größtem Behagen speiste, stets bedauernd, daß wir nicht mit von der Partie sein wollten. Meine Frau und ich schütteten jeder ein Glas Bier in unsere knurrenden Mägen, erhoben uns nach zwei Stunden und sagten: »Wir müssen, uns jetzt leider verabschieden. Unser Zug nach Oberhausen geht.« Ich wollte schon dem Kellner winken, meine vier Mark fünfzig in der Hand, da sagte Melchior: »Sie waren so liebe, aber so schlechte Gäste! Wo ich doch nichts schöner finde, als wenn man im Kreise von Freunden nach Herzenslust ißt und trinkt! «
Wir kamen lange nicht über das traurige Ergebnis unserer verschämten Armut hinweg, meine Frau und ich: »Jetzt hätten wir endlich ein anständiges Abendbrot gekriegt und müssen wieder hungrig nach Hause gehen!«
Immerhin, wir hatten den Glanz der großen Welt gesehen. Und wenn etwas schief in meinem Leben ging - gleich mußte ich an Lauritz Melchior denken. Er war so freundschaftlich und nett. Er gewann, indem er sich verschenkte. Allein, wir Armen hatten uns nichts schenken lassen.
Nach einem Engagement in Saarbrücken kam ich nach Dortmund, wo unsere Tochter geboren wurde und wo ich mir eine neue Schlusnus-Platte kaufte: die Arie des Barbier von Sevilla, die ich heute noch besitze und die großen Seltenheitswert für mich hat. Sie ist vollständig abgespielt, weil sie sich mehr als hundertmal drehen mußte, bis ich glaubte: >Jetzt kann ich's auch!< Schließlich holte man mich nach Wiesbaden und danach nach Berlin, ans Deutsche Opernhaus. Nach einem Wohltätigkeitskonzert, in dem ich die Barbier-Arie sang, kam Schlusnus auf mich zu und sagte: »Da sind mir aber manche Dinge doch sehr bekannt vorgekommen. «
In Berlin war ich sehr lange, auch noch den Krieg hindurch. Im Deutschen Opernhaus gastierte zu dieser Zeit ein Tenor, der sehr bekannt sein sollte, aber merkwürdigerweise in Deutschland noch nicht. Zur Zehn-Uhr-Probe erschien er um halb elf; ein nicht sehr großer, etwas rundlicher blonder, junger Mann. Er war sehr höflich, entschuldigte sich in gebrochenem Deutsch für die Verspätung, und wir probierten also. Er nicht, er markierte. Der damalige Oberregisseur sah sich das eine Weile an, ging ins Büro und erklärte: »Ich lehne die Verantwortung ab!« Wir anderen sagten uns: das wird eine der üblichen Manipulationen des offiziellen Kulturaustausches sein. Weil man das Land Schweden hofieren möchte, muß ein schwedischer Sänger in Berlin gastieren, ob er singen kann oder nicht.
Ich kam sehr skeptisch abends in die Bohème-Vorstellung. Mein Stichwort für den Rudolf, der am Fenster stand und nach Paris hineinschaute, fiel. Ich sang: »Was machst du?« Und er antwortete im schwedischen Text: »Ich starr' zum Himmel. Schau, wie aus tausend Essen Paris den schwarzen Rauch qualmt.« Mir blieb fast der Atem stehen - so schön war diese Stimme. Er sang und sang. Allmählich sammelten sich die Kollegen in den Kulissen und lauschten und warteten auf die große Arie. Er sang die berühmte Arie dann so unwahrscheinlich schön, daß wir uns verblüfft fragten: »Wer ist denn dieser junge Mann mit seiner tollen Stimme?« Und da stellte sich heraus, daß es Jussi Björling war, der einer der berühmtesten Tenöre der Welt geworden ist. Wir waren nach der Vorstellung im Opernhaus-Restaurant zusammen, und er amüsierte sich königlich, daß wir ihn eigentlich für so'n armes Hascherl gehalten hatten, dem wir über die Runden helfen müßten. Dabei hatte er uns alle doch fast an die Wand gesungen.


Später ging ich nach Wien und sang auch in Salzburg. Ich spielte dort den Papageno unter Furtwängler in der damals berühmten ersten Aufführung der Felsenreitschule. Schließlich machte ich mit Edwin Fischer eine Konzertreise durch die Schweiz und erlebte, daß dieser Titan am Flügel der denkbar zarteste Kammermusiker war, wenn er einen Solisten begleitete.
1950 ging ich nach München als erster lyrischer und Kavalier-Bariton und lebe seither in dieser Stadt. Daß ich, der ich doch bisher ein Barbier, ein Don Giovanni, ein Papageno gewesen war, schließlich in Bayreuth unter Wieland Wagners Regie den Beckmesser in den Meistersingern darstellen durfte, das halte ich für den Höhepunkt meines Lebens.

(nach Josef-MüllerMarein/Hannes Reinhardt, Das Musikalische Selbstportrait,  Nannen-Verlag, Hamburg, 1963, Seiten 144 ff)

 

Don Giovanni in Bayreuth - Aus den Erinnerungen des Baritons Karl Schmitt-Walter (1900 - 1985), Bayreuther Beckmesser 1956 bis 1961


Don Giovanni 1955, anläßlich der Wiedereröffnung der Berliner Staatsoper unter den Linden

Ende Dezember 1955 hatte ich in München eine Begegnung, die für meine weitere Theatertätigkeit von ganz großer Bedeutung sein sollte:
Ich sang im Prinzregententheater den Grafen Luna in Verdis "Troubadour" und während der Pause besuchte mich in meiner Garderobe Wieland Wagner. Er bot mir an, in seiner neuen Meistersingerinszenierung bei den Bayreuther Festspielen 1956 den Beckmesser zu singen. Er stellte sich die Partie als seriösen Stadtschreiber vor, gerade ich, der bekannte Kavalierbariton und Liedersänger, müsse der richtige Typ dafür sein. Ich möge mir die Sache doch überlegen und ihm in ein paar Tagen Bescheid geben.
Ich war verblüfft und eher erstaunt über diesen Vorschlag. Jahre zuvor hatte ich mir gewünscht und erhofft, in Bayreuth den Wolfram im "Tannhäuser" singen zu können. Der konkrete Plan dazu, mit Herbert von Karajan als Dirigenten, konnte aber im Kriegsjahr 1944 nicht mehr verwirklicht werden.
Ich besprach mich daheim mit meinen Kindern, fand ihre Zustimmung und sagte schließlich Wieland Wagner zu, trotz warnender Stimmen, die meinten, als Darsteller des Beckmesser würde ich dann kaum noch Kavalierbaritonpartien wie Mozarts "Don Giovanni" oder Rossinis "Figaro" singen können. Ich dachte mir aber, Richard Wagner hat schließlich seinen Beckmesser und Wolfram nahezu für das gleiche Stimmfach geschrieben, und begann gleich mit Gerhard Poppe, dem Chefkorrepetitor der Bayerischen Staatsoper, ein intensives musikalisches Studium der Partie des Beckmesser.


Festspielhaus Bayreuth

Ich hatte mir vorgenommen, die gewiß alles andere als leichte Partie bis zum April 1956 tadellos auswendig zu beherrschen - und das schaffte ich auch. Solcherart wohl gerüstet und fertig studiert traf ich im Mai 1956 auf dem Grünen Hügel ein und traf dort mit den Festspielleitern Wieland und Wolfgang Wagner zusammen. Ich fand auch ein nettes Privatquartier in der Nähe des Festspielhauses und die magische Atmosphäre Bayreuths begann auch mich gefangen zu nehmen.
Damals waren die Kollegen wirklich noch wie eine große Familie; oft saßen wir nach den Proben zusammen in der "Eule" oder im "Goldenen Anker" oder fuhren gemeinsam in die schöne fränkische Landschaft. Drei Jahre lang, von 1960 bis 1962, war ich auch "Studienleiter für ausländische Sänger". So glücklich, wie man in Bayreuth mit einer Partie war, konnte man nirgendwo sein. Das Jahr zählte fortan nur noch von Bayreuth bis wieder Bayreuth.
Meine erste Probe mit Wieland Wagner begann mit seiner Frage: "Herr Schmitt-Walter, was haben Sie sich denn zurechtgelegt für die Darstellung?"

Meistersinger-Probe Bayreuth 1956 mit Wieland Wagner, dessen handschriftliche Widmung lautet:
Meinem
Beckmesser mit aufrichtiger und herzlicher Anerkennung und Bewunderung
Wieland Wagner

Ich antwortete: "Herr Wagner, Sie machen doch alles anders als es üblich ist und deshalb habe ich mir erstmal gar nichts zurechtgelegt, sondern mich nur musikalisch gut vorbereitet." Er lachte und meinte dann: "Wir wollen das Pferd von hinten aufzäumen und mit dem schwierigen letzten Bild, der Festwiese, beginnen." Der Stadtschreiber Sixtus Beckmesser sei immerhin der rechtskundige Bürgermeister von Nürnberg und damit vergleichsweise eher ein Intellektueller gewesen. Wie kann er einen derartigen "Unsinn", wie das ihm von Sachs überlassene Preislied, akzeptieren? Aber in seiner Erregung nach dem Reinfall mit seinem eigenen Liedes im zweiten Akt und irritiert durch das kaum leserliche, in flüchtiger Handschrift abgefaßte Preislied, das er auf Sachsens Schreibpult fand, glaubte er doch, durch die vermeintliche Qualität seiner Komposition und seines Vortrags das Publikum auch von seiner Qualität als Werber überzeugen zu können.
So begannen wir also mit dem Lied, das ich vollständig ernst, wie ein Schubertlied vortrug, und das dadurch erst besonders komisch wirkte.
Die Probenarbeit in Bayreuth war, bedingt durch die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit, sehr intensiv. Oft kamen wir von morgens 9 Uhr bis tief in die Nacht hinein nicht von der Bühne. Dies alles konnte man nur mit großer Begeisterung leisten, und oft mußte Gerhard Hellwig, der damalige Leiter des künstlerischen Betriebsbüros, auf die Bühne kommen und uns mit den Worten: "Ihr habt wohl keine Betten Zuhause!" zum Aufhören zwingen.
Ich empfand dieses Probieren als herrlich, konnte ich mir doch so die Partie ganz zu eigen machen. Die Proben mit Hans Hotter als Sachs und Gerhard Stolze als David waren einfach wunderbar und wurden nie langweilig. Wieland Wagner hatte als Regisseur so viele herrliche Einfälle und ließ einem dabei doch alle Möglichkeiten, seine eigenen Gedanken umzusetzen, dies hatte ich in meiner damals schon nahezu vierzigjährigen Sängerlaufbahn kaum bei einem anderen Regisseur erlebt. Für jeden selbst beigesteuerten guten Gedanken bekam man übrigens von Wieland nach altem Theaterbrauch zehn Pfennige. Solche Einfälle wurden auch auf keinen anderen Darsteller übertragen.
Die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten der Aufführungen 1956 bis 1958, André Cluytens, war musikalisch interessant, wenn auch nicht ganz einfach, er schlug mir zu ungenau und machte mir dadurch das miteinander Musizieren ziemlich schwer, zumal ich diese schwierige Partie zum ersten Mal sang, und noch dazu in Bayreuth. 1959 dirigierte Erich Leinsdorf von der Met. Er war ziemlich trocken und versuchte, mich etwas von der Wieland-Auffassung wegzubekommen, er wollte den Beckmesser böser haben. In den nächsten Jahren kamen Schippers aus Amerika und 1961 Josef Krips aus Wien, der die "Meistersinger" dreissig Jahr nicht mehr dirigiert hatte - die erste Aufführung dauerte zwanzig Minuten länger als bei Knappertsbusch, die zweite war dann um zwanzig Minuten kürzer. Eines der ganz großen Ereignisse waren aber in Bayreuth die "Meistersinger" 1960 unter Hans Knappertsbusch. Ich war sehr glücklich, unter diesem großartigen Menschen und Musiker singen zu dürfen.
Die Premiere rückte näher und ich war recht glücklich über die Arbeit und über das Wachsen und die Entwicklung der Figur. Alle, ob sie nun mitwirkten oder nur zusahen, waren begeistert von der neuen Gestalt des Beckmesser. Meine Familie war inzwischen auch nach und nach eingetroffen. Sie durfte den Proben beiwohnen, was sonst an keinem Theater möglich war. Alle freuten sich auf die Premiere, die dann am 22. Juli 1956 stattfand.
Es wurde auch für mich ein ganz großer Erfolg. Alle Welt war von unserer Auffassung der Partie des Stadtschreibers begeistert. Ich wurde wirklich sehr gefeiert, von Publikum und Presse.
Die Inszenierung selbst wurde teils als großartig empfunden und teils abgelehnt. Alles war sich über den ersten Akt, als hervorragend gelungen, einig. Die beiden weiteren Akte wurden sehr angegriffen. Bei Wieland Wagners Erscheinen im Rahmen des Schlußbeifalls machten sich einige, offenbar gelenkte Buhrufer bemerkbar. Derartige Mißfallenskundgebungen galten damals in Bayreuth noch als unerhört. Heinz Tietjen klopfte mit seinem Programmheft einem vor ihm stehenden Buhrufer auf die Schulter. Ob er sich denn nicht schäme, in Bayreuth zu buhen? Der antwortete. "Was wollen Sie denn?! Verstehen Sie überhaupt etwas von Wagner?". Und das dem erfahrenen Theatermann und Regisseur aller Wagneropern. Wir haben viel darüber gelacht. Er auch.
Nach dem Premierenabend fand im Bayreuther Schloß ein Empfang der Bayerischen Staatsregierung statt. Alles, was Rang und Namen hatte, war erschienen. Ich wurde dort sehr gefeiert und alle, angefangen von den Ministern bis hin zu den Ehrengästen sagten mir sehr viel Schönes über meine Leistung. Wieland war besonders nett. Auch der Bayerische Ministerpräsident Ehardt, Professor Carlo Schmidt, die Begum, F. J. Strauß, Gerhard Schröder waren sehr angetan. Wieland bedankte sich am nächsten Tag bei der Versammlung der Freunde von Bayreuth besonders herzlich bei mir. Ich war über diesen wirklichen Durchbruch glücklich. Der Kritiker der "Frankfurter Rundschau" hat meines Erachtens den neuen Beckmesser sehr gut charakterisiert:


 
Beckmesser, Bayreuth 1956 -1961

"Man ist versucht zu sagen, daß die Bedeutung der Bayreuther Regie und damit der Bayreuther Inszenierung durch eine richtige Erkenntnis den wesentlichen Absichten Richard Wagners am nächsten kommt. Dies läßt sich an der Beckmesser-Figur von Karl Schmitt-Walter am besten ersehen. Und sie läßt sich an einer einzigen Demonstration für die ganze Gestalt ablesen. Da schlich sich vordem an Sachsen Fenster Beckmesser vorbei und vollführte in der Stube allerhand, eine das Publikum nur zu gut unterhaltende Harlekinade auf. Jetzt spielt Beckmesser auf dem schmalen Laufgang zwischen Schreib- und Notenpult stumm und verbissen den Dichterkomponisten, nach Worten wie nach Noten gleichermaßen in der Luft und von den Lippen haschend, bis er ans Schreibpult gefesselt nach der Gänsefeder greift, aufzuschreiben, was ihm der Genius, an dem auch er, wenn auch unzureichend leidet, eingegeben. Die Feder, auf das Papier gesetzt, bleibt auf dem fremden Liede haften. Der Punkt, auf dem die Feder sitzt, ein Notenpunkt voll faszinierender Kraft, wird zum letzten Auslöser des Dramas. Ein tödlicher Narr. Daher Verwandlung der Schusterstube in ein Laufbrett mit Symbolischen Merkpunkten. Noten- und Schreibpult in Sachsen Stube sind die Pole, zwischen die die Beckmessertragödie gespannt ist. Ohne diesen Ausgang von der simplen Stube ist das Ende Beckmessers nicht zu verstehen. Wir denken an seinen Abgesang auf der Festwiese (alias Amphitheater). Was war das doch sonst für ein harlekineskes Schaustück! Und nun? Die Szene, wie sie Wieland Wagner entworfen und Karl Schmitt-Walter kongenial zelebriert hat, gehört zu dem schlechthin Schaurig-Ernstesten, das nur noch in der Ironie und Selbstironie, die davon nicht wegzudenken sind, erträglich wird.
Beckmesser singt den unsinnigsten Unsinn, mißdeutend und mißtönend, aber er singt das alles feierlich-ernst, ergriffen von der Wahrheit, die er offenbar empfindet, erschüttert von dem Triumph, den seine Seele nie zuvor erfahren hat und es ist unbeschreiblich, wie tödlich ernst er ist und bleibt, ein echter Narr, der an sein eigene Narrheit glaubt. Aber, und das ist der tiefere Sinn dieser Darstellung, in der Inbrunst dieser Narrheit spiegelt sich der Ernst der ganzen Meistersingerei und in dieser närrischen Inbrunst empfängt noch der sonst so pathetische Aufruf - Ehrt Eure deutschen Meister - das gehörige und lang ersehnte Quentchen ironischen Humanismus, das ihn künftig vor allem parapolitischen Mißbrauch bewahren sollte."

Ich glaube, diese stark von Wieland Wagners Auffassung beeinflußten Zeilen sagen alles über die Figur des Beckmesser aus, wie er sie sah und wie ich sie bei den Bayreuther Festspielen der Jahre 1956 bis 1961 ohne Unterbrechung darstellte. Wo ich den Beckmesser auch sang, das erste Mal nach Bayreuth in Wien, schlug mir doch das Herz bei dem Gedanken, ob wohl die Darstellung ankommen würde. Und dennoch: Überall ließ sich die Figur in das übliche Klischee einbauen, überall war sie ein großer Erfolg. Ob nun in München, wo man zunächst von mir verlangt hatte, ich solle auf Bayreuth verzichten, was ich lachend zurückwies, ob in Lissabon, in Berlin oder in Stuttgart, ich blieb der neuen Rollenauffassung treu und habe daran auch bis zuletzt nichts geändert. In Wiesbaden, es war bei den Maifestspielen 1964, stolperte ich beim letzten Abgang nach der Ständchenkatastrophe und fiel, gottlob glücklich, bei der Stelle "verdammter Schuster" vor Sachs zu Boden, die Laute zerbrach, ich ging ab. Ob dies ein Zeichen war? Ich habe die Partie dann nicht mehr gesungen.

(veröffentlicht im Meistersinger-Heft der Bayreuther Festpielnachrichten 1997)

Lifemitschnitt Meistersinger-Premiere Bayreuth 1956